Kreatives Schreiben und Regeln: Ein Beitrag gegen die Regeln

Kreatives Schreiben und Regeln: Ein Beitrag gegen die Regeln

Das Mantra der modernen Schreibschule heißt Show, don`t tell. Jeder Autorenratgeber behandelt diese Regel und kein Schreibkurs kommt ohne diesen Grundsatz aus. Der Blog Schreibwahnsinn bemerkt durchaus treffenden zu dieser Schreibregel: Als Schreibanfänger kriegt man diesen Satz so oft um die Ohren gehauen, bis er einem aus selbigen raushängt. Ernsthaft. Ich konnte ihn nach einer Weile nicht mehr hören, habe ihn regelrecht gehasst.“ Hast Du auch so deine Probleme mit mancher Schreibregel? Dieser Beitrag wendet sich an alle Autoren, welche von den immer wiederkehrenden Tipps und Regeln in Kursen und Ratgeber müde sind. Dazu bedienen wir uns einer inspirierenden Schrift. Das zitierte Buch ist heute vergessen, lückenhaft (Teile davon gingen verloren) und wir kennen den Autor nicht.

Roman_Charaktere
Was können wir von einer verstaubten, antiken Schrift lernen?, Bild © by Hans-Joachim Köhn / pixelio.de

Die Rede ist von der antiken Schrift „Vom Erhabenen“ eines gewissen Longin oder Longinus. Mitunter heißt der Autor auch Dionysios Longinos, Pseudo-Longinos oder einfach nur Anonymus. Alle diese Namen beruhen auf fehlerhaften Zuordnungen zu möglichen Verfassern. In all den Jahrhunderten ist es nicht gelungen, den Autor zu identifizieren und es wird uns auch nicht mehr gelingen. Einige Details können wir seinem Buch entnehmen. Der Schriftsteller lebte offenbar im 1. Jh. n. Chr., war Grieche, sprach dazu auch Lateinisch und bewegte sich in vornehmen Kreisen. Er war gebildet, hat alle wichtigen Autoren der Antike gelesen und ein treffsicheres literarisches Urteilsvermögen. Mehr wissen wir über den Autor nicht. Dazu kommt, dass seine Schrift lückenhaft ist.

Von den ehemals 112 Seiten fehlen 36 Seiten, damit ist mehr als ein Drittel der Schrift verloren. Man kann nur spekulieren, was an den fehlenden Stellen behandelt wurde. Doch was von der Schrift übrig geblieben ist, ist zugleich beeindruckend und inspirierend.

Braucht große Literatur keine Regeln?

Im kleinen Büchlein „Vom Erhabenen“ geht es um wahrhaft große Literatur. Longin (wie der Autor nun heißen soll) behandelt einen Schreibstil, der mitreißt, den Lesern im Gedächtnis bleibt und allgemein Gefallen findet. An einer Stelle vergleicht der Autor diesen Sprachstil mit einem zuckenden Blitz, der alles zerteilt und schlagartig seine geballte Kraft zeigt. Es geht um wirklich große Literatur, sie findet allgemein Gefallen: „Überhaupt, halte das für vollkommen und wahrhaft erhaben, was jederzeit und allen gefällt.“ (Longin, 7 (4)). Doch es soll gar nicht um die genaue Bestimmung des erhabenen Stils gehen. Es geht vielmehr um die Botschaft, welche der Autor in seinem Buch vermitteln möchte.

Inspiration
Ob die Fotografin Longin gelesen hat?, Bild © by Stephanie Hofschlaeger / pixelio.de

Die Schrift behandelt die Frage, wie man große Literatur erschafft. Im lückenhaften Manuskript gibt es eine wunderbare Stelle. Diese kleine Passage hat besonders Schriftsteller im 17. und 18. Jh. immer wieder inspiriert: „Ich weiß nun wohl, daß große Naturen keineswegs fehlerfrei sind; Korrektheit nämlich in allem birgt Gefahr kleinlich zu werden. Im Großen aber muß, wie bei Reichtum im Übermaß, auch etwas sein, was vernachlässigt wird; und vielleicht muß es sogar so sein, daß kleine und mittelmäßige Geister, die nie etwas wagen und nie nach den Sternen greifen in der Regel fehlerfrei und sicher bleiben, während das Große eben durch seine Größe strauchelt. [..] . Freiheit vor Fehlern schützt vor Tadel; das Große hingegen erntet Bewunderung.“ (Longin, 33 (2), 36 (1))

Diese Stelle ist als „Genie und Regel“ bekannt. Der Abschnitt bei Longin hat einen großen Beitrag zum Geniegedanken etwa im Sturm und Drang geleistet. Alle Autoren, welche sich von Zwang und Regel befreien wollten, haben sich den Gedanken von Longin bedient. Dabei ist diese Rezeption verkürzt. Der anonyme Autor macht in seiner Schrift immer wieder deutlich, dass neben Talent auch Studium, Methode und Technik für einen guten Autor notwendig sind. Schreiben kann man also durchaus lernen. Doch die Diskussion über Genieästhetik soll hier gar nicht im Vordergrund stehen, es geht vielmehr um die Frage, was heutige Autoren von der antiken Schrift „Vom Erhabenen“ lernen können.

Was können wir heute von Longin lernen?

Was kannst Du vom anonymen Autor lernen? Was biete diese längst vergessene und verstaubte Schrift? Der griechische Autor macht Mut, einmal gegen den Strom zu schwimmen und seinen eigenen Kopf durchzusetzen. Die kleine Passage „Genie und Regel“ bietet eine ganz wichtige Botschaft. Wer einen großen und überzeugenden Roman schreiben möchte, muss etwas wagen. Dazu kann es gehören, dass Du bestimmte Regel der Literatur zumindest stellenweise verletzt. Über Tolkien wurde gesagt, dass der Herr der Ringe heute mehr keine Chance auf Veröffentlichung hätte. Der Roman verstößt an einigen Stellen gegen elementare Regeln, die bereits Schreibanfänger in Kursen zum Kreativen Schreiben lernen. So wurde kritisiert, dass er die Zerstörung von Isengart in einem Rückblick erzählt. Gerne wird auch das Kapitel „Der Rat von Elrond“ bemängelt. In diesem recht langen Kapitel passiert nach der Sicht von einzelnen Kritikern fast gar nichts.

Unabhängig, ob diese Kritik berechtigt ist. Wie viele Kapitel gibt es im Herrn der Ringe, welche Du bewunderst und nicht vermissen willst? Dieses Beispiel verdeutlicht recht schön, was Login mit Regelverletzungen meint. Erzähle nicht in Rückblenden. Show, don`t tell. Vermeide Genremix. Manchmal muss man diese Regeln symbolisch im feurigen Berg versenken. An einer Stelle schreibt Longin: Er ist für ein großes (leicht fehlerhaftes) Werk bereit, auf die Bücher von allen mittelmäßigen Autoren zu verzichten. Was würdest Du wählen, wenn Du die Wahl zwischen Tolkien und einem ganzen Regel mehrteiliger Fantasy-Sagas hättest?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert